Ein Besuch und eine Bücherwand

Wenn man das erste Mal in einer fremden Wohnung ist, versucht man ja oft, aus der Einrichtung Rückschlüsse auf den oder die Bewohner zu ziehen. Neulich war ich bei Bekannten eingeladen und ich verbrachte ein paar Minuten vor der Bücherwand, um zu sehen, ob es Gemeinsamkeiten bei unseren Literaturvorlieben gibt. Die gab es reichlich, das war auch keine Überraschung. Trotzdem kam ich ins Grübeln: was denkt jemand von meiner Bücherwand bzw. von meiner nicht existierenden Bücherwand?

In meinem Wohnzimmerregal gibt es einen Fernseher und in einem Fach stehen ein paar Kochbücher. Sonst ist meine Wohnung weitgehend bücherfrei, nur im Büro stehen ein paar Fachbücher herum. Wie mag das wohl auf Außenstehende wirken? Wenigstens habe ich keinen Fliesentisch. Dabei lese ich ziemlich viele Bücher, nur eben auf dem Kindle. Ich habe in den letzten Monaten zwei skandinavische Krimireihen (Liza Marklund und Jo Nesbø) komplett sowie diverse einzelne E-Books gelesen, ohne dass auch nur ein Zentimeter Regalplatz beansprucht wurde. Und mitschleppen musste ich die Bücher auch nicht.

Früher habe ich in den Urlaub pro Woche zwei bis drei Bücher mitgeschleppt und meistens eins ungelesen mit zurück gebracht. Heute kann ich selbst unterwegs noch Bücher kaufen und sie in ein paar Sekunden auf den Kindle laden – was will man mehr.

Wie gesagt, ich lese mehr. Viel mehr. Aber ich kann es halt in der Öffentlichkeit nicht so zeigen. Ich erinnere mich noch an Zeiten, in denen man Leute auf das Buch angesprochen hat, das sie gerade lasen. „Das habe ich auch gelesen“ — „Wie gefällt Ihnen das Buch?“ — Sätze, die man jetzt nicht mehr sagen kann. Wie soll man heute jemanden auf das Buch ansprechen? „Was lesen Sie denn?“ schafft keine Anknüpfungspunkte. Auf der anderen Seite kann man so auch Bücher in der Öffentlichkeit lesen, für man sich eigentlich schämt oder für die man nicht den Mut aufbringt. Es setzt sich ja auch keiner mit einem Playboy in die Bahn.

Mit Zeitschriften hatte ich da früher schon mal ein Erlebnis. In der PC Online (und auch in anderen PC-Zeitschriften) waren in den 90ern ganzseitige Anzeigen mit fast nackten Frauen, die für Online-Erotikportale warben. So etwas geöffnet auf dem Schoss liegen zu haben, zog schon die Blicke auf sich. Dumm, wenn man vorher eine „normale“ Seite gelesen hatte und dann umblätterte und plötzlich allen Umstehenden und Sitznachbarn diesen freizügigen Anblick bot. Mit dem Kindle kann man dagegen ungeniert auch zu etwas härteren Kost greifen, zum Beispiel den 50 Schattierungen von Grau und keiner ahnt, was das Gegenüber gerade liest. Hat also alles seine Vor- und Nachteile.